Pflicht des Arbeitgebers zu umfassender Sachverhaltsaufklärung bei Verdachtskündigung
LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 19.06.2013 - Az. 3 Sa 208/12 -
Auszüge aus den Entscheidungsgründen:
Grundsätzlich kann nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes nicht nur eine erwiesene Vertragsverletzung, sondern auch schon der schwerwiegende Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer sonstigen Verfehlung ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung gegenüber dem verdächtigten Arbeitnehmer sein. Eine Verdachtskündigung liegt dann vor, wenn und sobald der Arbeitgeber seine Kündigung damit begründet, gerade der Verdacht eines (nicht erwiesenen) strafbaren Verhaltens habe das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zerstört. Der Verdacht einer strafbaren Handlung stellt gegenüber dem Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Tat begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar. Bei der Verdachtskündigung sind objektive Tatsachen, die für den Verlust des zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses notwendigen Vertrauens ursächlich sind, der Kündigungsgrund. § 626 Abs. 1 BGB lässt im Fall des Verdachts einer Straftat eine außerordentliche Kündigung dann zu, wenn sich starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen; wenn die Verdachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses geforderte Vertrauen zu zerstören und wenn der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen hat, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Der Verdacht muss objektiv durch bestimmte, im Zeitpunkt der Kündigung vorliegende (Indiz-) Tatsachen begründet sein. Der Verdacht muss sich aus Umständen ergeben, die so beschaffen sind, dass sie einen verständigen und gerecht abwägenden Arbeitgeber zum Ausspruch der Kündigung veranlassen können. Er muss darüber hinaus schwerwiegend sein. Es ist zu prüfen, ob eine große Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der gekündigte Arbeitnehmer eine Straftat begangen hat.
Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist die außerordentliche Kündigung der Beklagten unwirksam. Die gegenüber dem Kläger erhobenen Vorwürfe rechtfertigen eine fristlose Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht. Unter Berücksichtigung der konkreten Einzelfallsituation ist dem Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Auslaufen der Kündigungsfrist zumutbar.
Die von der Beklagten vorgetragenen Tatsachen begründen auch nach Auffassung des Berufungsgerichts nicht den hinreichend dringenden Tatverdacht bzw. eine hinreichend große Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger tatsächlich Geld unterschlagen hat. Es bestehen diverse verschiedene Möglichkeiten, mit denen die Differenz zwischen den Eintragungen auf dem vom Kläger ausgefüllten Gerätebeleg und dem Datenstreifen des Gerätes erklärt werden kann.
- Es besteht die nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit, dass der Geldbetrag gar nicht fehlt. Der Kläger hat das Bestehen eines Fehlbetrages bestritten. Die Beklagte hat einen Fehlbetrag nur auf Basis von zwei Dokumenten "errechnet". Diese Berechnung erfolgte auch noch beliebig, denn der von der Beklagten genannte Fehlbetrag stimmt nicht mit den Angaben auf dem Datenträger überein. Die Beklagte hat den tatsächlichen Geldbestand in dem Spielautomaten nicht nachgezählt. Es ist daher bereits nicht zwingend davon auszugehen, dass der Beklagten überhaupt Geld fehlt.
- Hierzu wäre die Beklagte jedoch verpflichtet gewesen. Das gilt auch dann, wenn zu ihren Gunsten unterstellt wird, dass der Kläger in dem Anhörungsgespräch keine näheren Angaben dazu gemacht hat, warum er vor Ort durcheinander gekommen ist. Die Beklagte hat vorgetragen, ihr sei nicht bekannt, dass das Gerät Störungen gehabt habe. Der von der Beklagten ausgewertete Datenträger (Anlage K 5) weist für den 27.06.2011 diverse Error-Meldungen aus. Das springt sofort ins Auge. Hierüber setzt sich die Beklagte schlicht hinweg. Allein schon auf Grund dieser Fallkonstellation kann sie sich nicht darauf berufen, ihr sei von Störungen nichts bekannt. Die Beklagte ignoriert die Error-Meldungen und geht einseitig zu Lasten des Klägers davon aus, dass sie nichts zu bedeuten haben. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass das Gerät nachhaltige Störungen hatte. Ebenso wenig ist auszuschließen, dass diese Störungen zu fehlerhaften Anzeigen und Aufzeichnungen geführt haben. Letztendlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger tatsächlich aufgrund dieser Error-Vorgänge nachhaltig durcheinandergeraten ist, weil er mit dem Stress nicht mehr klar kam. Damit hat die Beklagte aber nicht alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, wozu sie jedoch bei einer Verdachtskündigung nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung verpflichtet ist. Sie ist nicht mit dem Maßstab eines besonnenen, verständigen und gerecht abwägenden Arbeitgebers vorgegangen. Im Gegenteil, sie hat auf dem Datenträger ausgewiesene Fakten zu Lasten des Klägers schlicht ausgeblendet.
- Der Kläger hat vorgetragen, dass das gestörte Gerät den Füllbestand nicht korrekt ausgewiesen habe und die Zähluhr sich im Zusammenhang mit dem mehrfachen Ein- und Ausschalten des Gerätes wiederholt erst verspätet betätigt habe, obgleich es schon Zwei-Euro-Stücke in hohem Tempo ausgezahlt habe. Die Beklagte hat das bestritten und den "Normalfall" geschildert. Das ist unzureichend. Der Kläger hat sich auf den "Ausnahmefall" berufen. Die Beklagte ist darlegungs- und beweisbelastet für das Vorliegen des Kündigungsgrundes. Sie hätte daher vortragen und beweisen müssen, dass kein Ausnahmefall vorlag.
- Die Beklagte ordnet das Vorbringen des Klägers schlicht als Schutzbehauptung ein und stützt sich auf seine Äußerung in dem Gespräch vom 28.7.2011 "da habe er wohl Mist gemacht". Hieraus leitet sie ab, der Kläger habe eine Unterschlagung eingeräumt. Jedenfalls habe man das so verstehen müssen und dürfen. Nach der Überzeugung der Kammer ist dieser Satz keineswegs zwingend dahingehend zu verstehen, dass der Kläger mit seiner unstreitigen Äußerung eine Unterschlagung einräumen wollte. Er ist vom Horizont eines besonnenen Arbeitgebers vielmehr dahingehend zu verstehen, dass ein möglicher Fehler eingeräumt wurde. Anhaltspunkte für das Eingestehen einer Zueignung des Betrages ergeben sich hieraus auch nicht ansatzweise. Gleiches gilt ebenso für das Angebot des Klägers, den Betrag ggf. erstatten zu wollen. Es gibt eine Vielzahl von Fallkonstellationen, in denen Arbeitnehmer Beträge an ihren Arbeitgeber erstatten, obwohl sie diese nicht schulden. Dem Kläger war in den letzten Monaten vor Ausspruch der Kündigung diverse Male der Abschluss eines Aufhebungsvertrages nahegelegt worden. Von ihm war erst drei Tage vor dem Gespräch, nämlich bei Abschluss des Abwicklungsvertrages, absolutes Wohlverhalten während des Laufs der Kündigungsfrist verlangt worden, damit er die Abfindung erhalte.
- Das Arbeitsgericht hat im Rahmen der Würdigung des Sachverhaltes auch zutreffend zu Lasten der Beklagten festgestellt, dass diese es unterlassen hat, den Imbissbetreiber zu befragen. Hierzu wäre sie jedoch verpflichtet gewesen, denn ein besonnener Arbeitgeber darf im Rahmen der notwendigen Sachverhaltsaufklärung vor Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung nicht nur die Fakten zu Lasten des Arbeitnehmers zusammentragen, muss vielmehr auch überprüfen, ob es entlastende Fakten gibt, die gegen den Verdacht sprechen. Das gilt gerade angesichts der unstreitig dokumentierten Error-Meldungen des Spielgerätes.
- Letzten Endes fehlen auch jegliche Anhaltspunkte für das notwendige Vorliegen einer Zueignungsabsicht des Klägers. Auch hierauf hat das Arbeitsgericht zutreffend hingewiesen.
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